GESCHICHTETE BLICKE

Fotografische Pikturalität bei Josef Wais

"Ich betreibe in meiner künstlerischen Arbeit alle Arten von Fotografie und versuche, mir die unter-
schiedlichsten Auffassungen über diese gleichwertig anzueignen", so beschrieb Josef Wais einmal
sein Selbstverständnis als Künstler gegenüber dem Medium Fotografie, das seit Anfang der 70er Jahre
zu einem integralen Bestandteil seines künstlerischen Schaffens geworden ist.

Entsprechend diesem Verständnis ist die Umgangsweise mit Fotografie eine vielfältige und komplexe:
Nicht die Abbildungsmöglichkeiten, sondern die Um- und Neubildungsmöglichkeiten stehen im Vorder-
grund seiner künstlerisch-fotografischen Praxis. Bei Wais ist kein Glaube mehr an einen Tatsachengehalt
des fotografischen Bildes zu finden. Er versteht es per se - als Reservoir für kreative Ausdrucksmöglich-
keiten. Das in der Realität Vorgegebene dient lediglich als Bildbaustein für eine visuelle Kombinatorik.
Fotografien auf Barytpapier finden dabei ebenso ihre Berechtigung wie Polaroidaufnahmen, Arbeiten auf
Fotoleinen oder Arbeiten über Fotografie, indem diese (etwa in Form von Zeitungsausschnitten) selbst als
eigenständige Objekte eingesetzt werden. Die einzelnen Arbeiten, die sowohl in Schwarzweiß als auch
in Farbe ausgeführt sind, besitzen nicht selten Unikatcharakter.

In den fotografischen Verfahrensweisen spielt der Arbeitsprozess, der Vorgang des Machens also, eine
wichtige Rolle, insofern er in der Regel auf konzeptuellen Strategien basiert. Wais arbeitet mit inszenatori-
schen Intentionen: Das Gegenständliche hat nur mehr insoweit eine konkrete Funktion, als es an Bedeu-
tungsfacetten in sich zu tragen vermag. Formale und ästhetische Möglichkeiten, die mit der Fotografie
realisiert werden können, bestimmen die Bildkompositionen; dabei dominiert nicht das Einzelbild, sondern
Serien, Sequenzen und fallweise Objekte. Dieses Zusammensetzen wird wesentlich von Aspekten
bestimmt, die keine medienreflexiven Implikationen aufweisen. Nicht selten spielen dabei Bild -Text - Kombi-
nationen eine konstitutive Rolle (etwa bei "Schöne Banalität"). Thematisch lassen sich in der langjährigen
Arbeit von Wais drei konstante Momente herausfiltern: Das Autobiographische, das Urbane und in
Verbindung damit die politische Ebene eigener Identität. Die 12teilige Serie "Flugsand" kann als prägnantes
Beispiel genannt werden. Die Suche nach einer urbanen, sozialen und in gewisser Hinsicht visuellen
Identität wird mit verschiedenen Bildverschichtungen demonstriert. Das fotografische Portrait einer
städtischen Örtlichkeit wird durch das Hineinkopieren des Bildes der eigenen Person mit Autobiograph-
ischem in Beziehung gesetzt. Die Atmosphäre des Ortes wird erst mit persönlichen Stimmungen hergestellt
und von diesen überlagert. In Verbindung mit textlichen Erinnerungsfragmenten wird zusätzlich die tempo-
rale Dimension ins Spiel gebracht: jede Örtlichkeit ist mit Erinnerungen behaftet, die ihre Gegenwärtigkeit
entscheidend mitprägt - gerade die Fotografie schuf eine neue Möglichkeit, sich "ins Bild" zu bringen.

Ist die Identitätssuche bei "Flugsand" im öffentlichen Raum situiert, so findet sie sich in der großformatigen
Arbeit "Bleriot" im persönlichen, intimen Ambiente. Sie beruht fototechnisch auf einer Mehrfachbelichtung
(die auf einem Negativ ausgeführt wurde). Das fotografische Sujet bildet die Wohnung in der Bleriotgasse
in Wien. Mittels der Mehrfachbelichtung wird eine gegensätzliche Perspektive ineinander geschichtet, wobei
ein jeweils gegenüberliegender Blickpunkt bei der Aufnahme eingenommen wurde. Gleichzeitig wird mit
dieser Verfahrensweise die Eindeutigkeit des Bildsujets gebrochen. Der Betrachter sieht eine onirisch
anmutende visuelle Landschaft, die eine intensive emotionale Imaginativität hervorruft.

Sigmund Freud hat den Traum als Archäologe verschiedenster Bildschichten, die sich ständig überlagern,
beschrieben. Wais thematisiert dieses Interpretationsmodell gewissermaßen fotografisch, indem er eine
Bildtextur schafft, die eine vielschichtige Narrativität in sich birgt. Gleichzeitig wird dadurch auch eine Zeit-
lichkeit imaginiert, die über das zu Tode zitierte "Augenblickliche" der Fotografie hinausgelangt

Carl Aigner    1989

Text aus Fotografie seit 1989, Herausgeber: Margit Zuckriegl, Österreichische Fotogalerie Rupertinum.

Karl Aigner ist Direktor des Niederösterreichischen Landesmuseums.

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